Schriftdolmetscher

Ich weiß gar nicht, warum mir meine Mutter vor ein paar Jahren die letzten verbliebenen Briefe meines Großvaters in die Hand gedrückt hatte. Sie konnte sie nicht lesen, auch sonst niemand in der Familie, und irgendwie war mir so, als wenn ich es nochmal probieren müsste.

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Ich hab mich erst einmal etwas reinarbeiten müssen, aber zum Glück hab ich noch Deutsche Schreibschrift (Sütterlin) gelernt, teils von meiner Mutter, teils in der Grundschule. Das war aber nur eine Grundlage, denn mein Großvater hatte wirklich eine Sauklaue. Das ist sicher auch den Umständen zu verdanken, unter denen er die Briefe geschrieben hat, unterwegs, den Bogen auf den Knien, im feuchten Schützengraben, fast ohne Licht ... dazu noch mit einem stumpfen Kopierstift, in winterlicher Kälte, unter wirklich widrigen Umständen. Die Gedanken drehten sich immer im Kreis, die Sehnsucht war so groß. Oft genug lag die Stellung unter Beschuss.

So habe ich mir also die Arbeit gemacht, Brief für Brief mühsam durchzugehen und abzuschreiben. Erst noch mit vielen Lücken. Dann konnte ich nach und nach die Lücken füllen. Inzwischen gibt es nur noch eine Stelle, wo die Ecke des Briefbogens fehlt, an der ich nicht weitergekommen bin.
Und manchmal ging es langsam, weil ich weinen musste. Über die Liebe. Über die Hoffnungslosigkeit. Über doch wieder aufkeimende Hoffnung, die am Schluss in einem Granathagel buchstäblich zerplatzte.

 

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