1919

Als ich zehn Jahre alt war, kam ich aufs Gymnasium. Der Schritt aus der Grundschule war für mich im Kopf ein deutlicher Schritt zum Erwachsenwerden. Gefühlt war ich mit zehn allerdings noch ein Kind, und das Leben lief in friedlichen, geordneten Bahnen. Natürlich mit allen persönlichen Höhen und Tiefen. Die Welt um mich herum war 1975 nicht immer friedlich. In Vietnam endete der Krieg, zumindest theoretisch, so wie Kriege enden. Irgendwo sitzen immer noch Knallköppe und zündeln. In Deutschland herrschte Aufruhr. Die RAF war in aller Munde, in Frankfurt waren die samstäglichen Demonstrationen - zu welchem Thema auch immer - schon fast Tradition.

Als meine Großeltern 10 Jahre alt waren, hatten sie schon einen Krieg hinter sich. Ich weiß jetzt gar nicht, ob der Hupfeld-Großvater überhaupt zurückgekehrt ist, der Tränkel Anton ist es, allerdings beschädigt an Leib und Seele. Ob die Lungenkrankheit vom Gaseinsatz kam oder einfach nur von der schlechten Ernährungslage in der Nachkreigszeit und dem Kummer, kann ich nicht sagen.

1919 ist ein spannendes Jahr. Ebert wird Reichspräsident. Die KPD und die DAP (später NSDAP) werden gegründet. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht werden ermordet. Die Gesellschaft brodelt. Aus der Monarchie entlassen ist sie auf dem Weg zu neuen Zielen, und sie weiß nicht recht, zu welchen. Den Menschen geht es nicht gut, es gibt Arbeiteraufstände. Der Achtstundentag wird eingeführt. Die Dadaisten formieren sich, Charles Chaplin und andere gründen die "United Artists". Der Atlantik wird erstmals nonstop überflogen. Die große Grippe-Epedemie, die als "Spanische Grippe" in die Geschichte einging und bis zu 50 Millionen Todesopfer forderte, geht zuende. Der Maler Egon Schiele z.B. fiel der Grippewelle in Wien zum Opfer. Kemal Atatürk gründet die unabhängige Türkei.

Die zahlreichen Unruhen in Deutschland lassen auf eine zum Teil verzweifelte Lage in den unteren Gesellschaftsschichten schließen, zu der auch meine Urgroßeltern zu zählen sind. Sie werden es nicht leicht gehabt haben, zumal die Ernährer der Familien nicht voll einsatzfähig waren. Wie haben sich die Familien über Wasser gehalten? Die ältesten der Geschwister meines Großvaters werden schon arbeiten gewesen sein, Karl war schon 17, Lina 11, Mathilde 15. Die Brüder meiner Großmutter waren allesamt jünger als sie und zum Teil noch im Windelalter.
 

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